Freitag: Die Ost-West-Wochenzeitung     06   02.02.2001

  Jeannette Goddar

Deutschland ist kein sicherer Drittstaat

 
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ASYLPOLITIK*Seit 1993 sind in unseren Grenzen 239 Flüchtlinge ums Leben gekommen. Ihre Namen kennen nur wenige

Am 3. Dezember wird in Salzwedel in Sachsen-Anhalt ein 42-Jähriger erhängt auf dem Dachboden eines Wohnhauses gefunden. Fünf Tage später findet ein erst 17-Jähriger in Hannover auf die selbe Weise den Tod; er hat sich in seiner Zelle an seinen Schnürsenkeln erdrosselt. Am 15. Dezember lässt sich ein 32-Jähriger in Teltow-Fläming aus dem Fenster eines fahrenden Zuges fallen und ist sofort tot.

Die drei Männer, die sich Ende vergangenen Jahres binnen von nur zwölf Tagen auf deutschem Boden das Leben nahmen, haben gleich drei wesentliche Gemeinsamkeiten: Keiner von ihnen hat einen deutschen Pass; sie alle wurden als Asylbewerber abgelehnt. Und: Über keinen von ihnen hat die Öffentlichkeit viel erfahren. Genau genommen nur soviel: Der 17-Jährige, der Tamile Arumugasamy Subraniam, lebte seit seinem zwölften Lebensjahr in Deutschland; sein Asylantrag wurde abgelehnt; seit Jahren schlug er sich dennoch durch, sein Onkel, der die deutsche Staatsbürgerschaft annahm, wollte den Jungen adoptieren. Am Abend des 7. Dezember wird der Neffe nichtsdestotrotz festgenommen und in Abschiebehaft verbracht; am nächsten Tag ist er tot. Der 42-jährige Togoer Koziaku Prempe hätte binnen der nächsten Tage ausreisen müssen - und wählte den Tod auf dem Dachboden, ein Tod, der mehrere Tage unentdeckt blieb. Von dem 32-jährigen Chinesen, der in Brandenburg aus dem Zug sprang, erfuhr man nicht einmal den Namen. Für die beiden anderen gilt: Ob die Namen ihre wirklichen sind, wissen nur sie selber.

Dies sind nur die drei jüngsten Selbstmorde, die die Antirassistische Initiative Berlin (ARI) in ihrer Dokumentation "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen", die in der vergangenen Woche in Berlin vorgestellt wurde, auflistet: In 239 Fällen, so die ARI, seien von 1993 bis 2000 Flüchtlinge "durch staatliche Maßnahmen" ums Leben gekommen - gegenüber 64 durch rassistische Übergriffe Getötete. Zur Gruppe derer, die durch "staatliche Gewalt" den Tod fanden, zählt die ARI 92 Selbstmorde, 89 Menschen, die beim Versuch, die Bundesrepublik zu erreichen, schon an der Grenze den Tod fanden, sowie fünf Menschen, die während der Abschiebung starben.

Nun weiß man nicht erst seit Zeiten der Kriegsberichterstattung, dass Opferzahlen zu den am häufigsten je nach Interessenlage interpretierten der zivilisierten Welt gehören - dennoch verdient die 175-seitige Dokumentation, einen Moment lang über ihr innezuhalten. Denn ungeachtet der Tatsache, ob der ein oder andere bilanzierte Fall vielleicht doch nur in zweiter oder dritter Instanz Opfer "staatlicher Maßnahmen" geworden ist, so werfen sie doch ein bezeichnendes Licht - und zwar weniger auf die inzwischen hinreichend dokumentierten Zustände an den Grenzen nach Polen und Tschechien als vielmehr auf die Verfasstheit derer, die in der Illegalität leben.

Zum Beispiel Davut K., einer der wenigen in der Statistik, der zumindest der Berliner Öffentlichkeit bekannt wurde. Den 17-jährigen Kurden kostete am 24. November 2000 eine Fahrkartenkontrolle fast das Leben. Die Kontrolleure meinten, ein gefälschtes Ticket erkannt zu haben und riefen die Polizei. Davut K. flüchtete sich in die Räume einer psychotherapeutischen Beratungsstelle - und stürzte sich aus dem Fenster, als die Polizei hinterherkam. Ob er jemals wieder laufen kann, ist nach wie vor unklar. Warum er sich vor den Augen der Beamten fast in den Tod stürzte, hingegen nicht: In der Türkei war er wegen seiner PKK-Mitgliedschaft zu zwölf Jahren Gefängnis sowie unter Folter zur Mitarbeit für den türkischen Geheimdienst genötigt worden. Fälle wie den von Davut K. gibt es Hunderte - nicht alle haben den Moment der Angst, entdeckt zu werden, überlebt. Ein 29-jähriger Russe starb im Oktober, nachdem er ohne Fahrkarte in der Deutschen Bahn kontrolliert wurde und dort aus dem Fenster sprang. Am 30. August versuchte ein 28-jähriger Mongole mit Hilfe zusammengeknoteter Bettlaken aus einem Berliner Krankenhaus zu fliehen - er stürzte aus dem 6. Stock ab und war sofort tot.

Am wohl drastischsten aber - so sich Zahlen von Toten werten lassen - scheint die Zahl derer, die sich nach Ansicht der ARI aus Angst vor einer drohenden Abschiebung gezielt das Leben nahmen. In fast der Hälfte der Fälle fand der Selbstmord in Abschiebehaft statt - also in jener Institution, die seit Jahren weitgehend ungehört im Zentrum der Kritik von Menschenrechtsorganisationen steht. Bereits 1999 hatte Pro Asyl eine Statistik vorgelegt, laut der sich seit 1993 35 Menschen in einer Arrestzelle das Leben genommen haben. Leben in Abschiebehaft - das heißt nicht nur, für nichts weiter als für illegale Einreise inhaftiert zu werden. Abschiebehaft bedeutet in aller Regel auch: Vierer- bis Sechserzellen ohne Rücksicht darauf, ob die Inhaftierten eine gemeinsame Sprache sprechen; eine Stunde Hofgang täglich, keine Werkstätten, keine fremdsprachige Literatur, Besuch nur, wenn es in der Fremde schon so etwas wie persönliche Kontakte gibt. Ein halbes Jahr, so sagt es das Ausländergesetz, soll die Haft höchstens dauern - in der Realität sitzen in jedem Jahr Hunderte bundesweit erheblich länger hinter Gittern. Sie tun nichts anderes, als auf die Rückreise in ein Land zu warten, das sie unter Einsatz ihres Lebens verlassen haben.

   
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